1. Kapitel - Die Begegnung

An einem schönen Sommermorgen trafen sich Fuchs und Igel ganz zufällig auf einer Waldlichtung.

Blitzschnell rollte sich der Igel zu einer Kugel zusammen, da er keine Lust hatte, gebissen oder gar gefressen zu werden.

«Aber, aber», gab sich der Fuchs leicht beleidigt, «was denkst du denn von mir?»

«Ich», piepste der Igel, «bin lieber vorsichtig!»

Der Fuchs, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf Bewunderung aus war, fand das Verhalten des Igels ärgerlich. Ein so kleines Tier hatte gefälligst stramm zu stehen, wenn er sich dazu herabließ, mit ihm zu plaudern.

Der Fuchs wusste aber auch, dass es keinen Sinn hatte, den Igel anzugreifen. Ein solcher Versuch würde für ihn mit einer blutig gestochenen Nase enden.

Einfach weitergehen kam ebenfalls nicht in Frage. Er, der Fuchs, konnte schließlich nicht riskieren, seinen Ruf als klügstes und zugleich mutigstes Tier des Waldes zu verlieren. Was also tun?

Verstohlen blickte sich der Fuchs um. Und tatsächlich! Am Rande der Lichtung erspähte er ein Häschen, das ihn ziemlich respektlos angrinste.

Bei diesem Anblick wurde dem Fuchs fast schlecht. Nun musste ihm aber verdammt schnell etwas einfallen, wenn er nicht zum Gespött der Waldtiere werden wollte!

Sollte er sich vielleicht auf die Hinterpfoten stellen? Ach nein, das würde nur komisch aussehen!

Oder sollte er versuchen, wie ein Wolf den Mond anzuheulen? So ein Blödsinn! Im Augenblick stand eine strahlende Sonne am Himmel und es war noch nicht einmal Mittag!

Dann fiel dem Fuchs ganz und gar nichts mehr ein. Doch auf dem Höhepunkt seiner Verzweiflung durchzuckte ihn ein genialer Gedanke. Er hatte doch eben erst ein richtiges Abenteuer erlebt. Ein Abenteuer, von dem ein so ängstliches Tier wie der Igel nur träumen konnte. Er beschloss, dem Igel seine soeben erlebte Geschichte in allen Einzelheiten zu schildern.

«Vorsicht», leitete der Fuchs seine Erzählung ein, «ist ja gut und schön, aber wenn du nicht auch einmal etwas wagst, bleibt dein Leben gänzlich uninteressant. Ich zum Beispiel komme geradewegs vom Hof des Bauern, wo ich ziemlich aufregende Dinge erlebt habe!»

Hier legte der Fuchs eine kleine Kunstpause ein, um die Wirkung seiner Worte zu überprüfen. Das Ergebnis war enttäuschend. Noch immer lag der Igel vollständig zusammengerollt auf dem Gras und es deutete nichts darauf hin, dass sich daran etwas ändern würde.

Oh je, dachte der Fuchs, da muss ich wohl noch einen Zacken zulegen!

Das fiel ihm allerdings auch nicht schwer, da er von seinen Eltern einen Sinn für das Dramatische geerbt hatte. Mit jetzt fast flüsternder Stimme fuhr der Fuchs fort:

«Und so hat sich die Geschichte abgespielt: Beim Heranpirschen an den Hühnerstall merkte ich, dass der Hühnerhofzaun gar keine Schlupflöcher mehr hatte! Aber ich bin ja nicht auf den Kopf gefallen! Ich wusste gleich, was zu tun war!»

Nun hatte es den Igel aber doch gepackt. Das war ja eine unglaublich spannende Geschichte! Hin- und hergerissen zwischen seiner Angst vor dem Fuchs und seiner plötzlich erwachten Neugier, gelang es ihm nicht länger, sich vollständig reglos zu verhalten.

Die winzigen Bewegungen des Igels waren dem darauf lauernden Fuchs natürlich nicht entgangen. Uff, dachte er erleichtert, nun wird es wohl nicht mehr so lange dauern, bis ich den Igel da habe, wo ich ihn haben will! Mit diesem beruhigenden Gedanken nahm der Fuchs den Faden seiner Erzählung wieder auf.
«Ich schlich zu der mit einem Riegel verschlossenen Tür des Hühnerhofzauns, nahm den nach außen gebogenen Griff des Riegels ins Maul, zog kräftig daran und schon war ich drin! Danach überquerte ich eilig den Hof und stand schwuppdiwupps vor dem Hühnerstall. Drinnen flatterten die Hühner, die sich vor mir versteckt hielten, laut gackernd hin und her. Jetzt, dachte ich, werde ich wohl noch ein wenig warten müssen, bis sich das erste Hühnchen durch die Laufluke wieder nach draußen wagt.»

An diesem Punkt seiner Erzählung brauchte der Fuchs wirklich eine Pause. Die Erinnerung an den noch nicht lang zurückliegenden Schrecken löste ein unangenehmes Gekribbel und Gebrummel in seinem Magen aus. Doch das legte sich schnell wieder. Dabei half ihm auch, dass der Igel Anstalten machte, sich allmählich zu entrollen.

Und nicht nur das! Mittlerweile hatten sich immer mehr Tiere am Rande der Lichtung versammelt. Sogar ein Wildschwein war unter den Anwesenden zu erkennen. Was für ein Publikum! Der Fuchs leckte sich zufrieden das Maul, als hätte er soeben das ihm vorhin entgangene Hühnchen verspeist.

«Jaaaaaa», hob er mit jetzt stolz geschwellter Brust an, «da lag ich nun geduldig wartend neben der Luke, als ein furchtbar lauter Schrei ertönte! Zum Überlegen blieb keine Zeit! Wie ein geölter Blitz sauste ich über den Hühnerhof zurück und bog dann schleunigst um die Ecke. Aus den Augenwinkeln konnte ich gerade noch erkennen, wie zwei Männer mit Mistgabeln in der Hand laut schimpfend hinter mir her liefen!»

«Oooooooh, oooojemine!», riefen einige Zuhörer betroffen aus, wurden aber schnell von den Umstehenden wieder zum Schweigen gebracht. Der Fuchs tat so, als hätte er das alles gar nicht mitbekommen und redete unbeirrt weiter:

«Ich hatte nur eine Chance! Ich musste schneller sein als die Menschen und mich so verstecken, dass sie mich nicht finden konnten. Also rannte ich wie verrückt zum Kuhstall des Bauern, weil dahinter, wie ich noch von früher wusste, ein ziemlich großer Heuhaufen lag. Bei meinem Tempo war es mir dann ein Leichtes, mit einem einzigen Satz bis ganz nach oben zu springen!»

Jetzt waren vereinzelte «Bravo!»-Rufe zu hören, aber dem Fuchs kam dieser Beifall noch zu früh. Leicht verärgert schüttelte er den Kopf, versäumte es dabei aber nicht, einen weiteren Blick auf den Igel zu werfen. Befriedigt stellte er fest, dass sich dieser nun schon ganz entrollt hatte, wieder auf dem Bauch lag und ihn mit offenem Maul anstarrte. Gut so, dachte der Fuchs bei sich, also weiter:

«Das war wirklich schlau von mir, denn kaum hatten die Männer den Heuhaufen erreicht, als sie auch schon anfingen, wie wild mit ihren Mistgabeln darauf einzustechen! So ging das eine ganze Weile, aber keiner der beiden kam auf die Idee, auch mal einen Blick nach oben zu werfen. Schließlich zogen sie ganz enttäuscht ab, um woanders nach mir zu suchen. Dabei sagte der eine Mann zum anderen: ‹Diesen Fuchs zu fangen, könnte genauso schwierig werden wie unsere gestrige Schachpartie!›»

Nun gab es kein Halten mehr! Alle Zuhörer klatschten, johlten oder pfiffen, so gut sie es eben vermochten. Auch der Igel war aufgestanden und ließ bewundernd die Stacheln klackern.

Endlich geschafft, dachte der Fuchs glücklich und verneigte sich artig vor seinen noch immer applaudierenden Zuhörern. Dann drehte er eine sehr anmutige Pirouette und war im Begriff, die Waldlichtung majestätischen Schrittes zu verlassen.

Ausgerechnet jetzt hatte sich der Igel wieder so weit berappelt, dass er es wagte, dem Fuchs eine Frage hinterherzuschicken:

«Allwissender Fuchs, was ist denn eine Schachpartie?»

Der Fuchs erstarrte mitten in der Bewegung. Es war nämlich so, dass er in Wahrheit nicht besonders viel wusste und mit dem Wort Schachpartie konnte er erst recht nichts anfangen. Aber diesmal kam ihm der rettende Einfall sofort.

Graziös wie zuvor drehte sich der Fuchs langsam wieder um und schaute dem Igel tief in die Augen. Und jetzt, überlegte er, ist eine Schmeichelei fällig.

«Aber Igel», säuselte der Fuchs, «du versetzt mich wirklich in Erstaunen! Ein so kluges Tier weiß nicht, was eine Schachpartie ist?»

Der Igel errötete bis unter seine Stacheln. «Ich ...», stammelte er verlegen, «also, wie soll ich sagen ...»

«Du musst gar nichts sagen!», unterbrach ihn der Fuchs scheinbar verständnisvoll. «Es reicht völlig, wenn du bis heute Abend herausfindest, was das Wort bedeutet.»

Die anderen Tiere schwiegen beklommen, weil sie sich ziemlich sicher waren, dass der Fuchs dem Igel eine unlösbare Aufgabe gestellt hatte. Aber nach dem Gesetz des Waldes konnte ein einmal gesprochenes Wort nicht wieder zurückgenommen werden.

Und so saß der Igel in der Falle. Völlig unerwartet musste er in eine Welt hinaus, von der er noch nicht einmal wusste, wie groß oder gefährlich sie war. Aber es half alles nichts.

Mit einem fröhlichen «Bis heute Abend dann!» drehte sich der Fuchs um und verschwand zusammen mit den anderen Tieren zwischen den Bäumen des Waldes.

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Buchinfos

  • Titel: Vom Igel, der eine Schachpartie suchte
  • Autor: Magda von Garrel
  • Illustrationen: Bella Dolfen
  • ISBN: 9783944873053
  • Genre: Kinderbuch
  • Umfang: 54 Seiten
  • Format: A5 quer, Hardcover
  • Empfohlenes Alter: 5-8 Jahre
  • Preis (Print): 10 Euro
  • Preis (E-Book): 4,00 Euro
  • Verfügbar (Printbuch): shop.carow-verlag.de
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